wenn bach eine aussage musikalisch in einigen stimmen eindeutig und oft parallel führt, sind oft andere stimmen in gegenbewegung - leicht verschoben, absteigend statt aufsteigend oder umgekehrt, in eine andere tonart modulierend, eine bejahende bewegung in eine frage verwandelnd. dies gibt seinem werk eine ungeheure komplexität, tiefe, mehr-dimensionalität. man könnte auch im psychologischen sinn des 20. jahrhunderst vom mit-komponieren des schattens einer aussage sprechen, eine technik, die kompositorisch nach bach erst wieder ab der späten romantik ganz bewusst genutzt wurde. gedeutet werden könnte dieses phänomen auch als die einführung des freien individuums.
nach dem hören der passionen und der h-moll messe muss ich immer wieder an die letzten szenen von mozarts don giovannis denken, die mir als eigentliche fortsetzung bachs musik unmittelbar einleuchten. auch hier geht es nur noch um die emanzipation des indivduums, gegen sitte, zeitgeist und moral einer ganzen gesellschaft. das „nein“ wird zur befreiung des grundehrlichen geistes, der nicht nach dem preis seiner integrität fragt.
doch zurück zu bach: die turba-chöre der johannespassion, heute würde man wohl sagen: nicht mehr sdg, sondern svp, sind ein erschütterndes beispiel für die voll-umfänglichkeit von bachs sicht des geschehens: das sofortige mitschwingen mit der erregten meute, die identifikation des hörers und der hörerin ereignet sich, weil die musik das geschehen u n d die psychische verfassung, wie etwa angst, abwehr, wut nicht nur zeigt, sondern auslöst. sie bleibt immer komplex, nie simplifizierend.
„nicht diesen, sondern barrabam“ - geradezu freudige erwartung, tänzerische lust, aufgeregtes rufen, textlich leicht versetzt stimmen: ja! denken wir sofort, ja! er soll hängen! schon beim nächsten arioso ist allerdings die betroffenheit über die eigene bereitschaft, den sündenbock zu opfern, um selbst vor entwicklung verschont zu bleiben, gross. ein wechselbad äusserster psychologischer raffinesse.
und so bleibt beim hören bachs immer auch die trauer, dass es nicht einfach ist, sondern komplex, dass das gute auch das böse ist, und das helle blitzschnell verdunkelt. und diese trauer ist immer gleichzeitig: die freude.